Neulich kochte Kirsten Tafelspitz. Claudio servierte “Flädlisuppe”, und katapultierte mich damit Jahrzehnte zurück. In meinem Kopf machte es wusch-wusch-wusch. Sofort fielen mir Grete und Jakob ein. Nach einigem Googeln weiß ich jetzt, dass mich das “Flashback” 18 bis 20 Jahre zurückspulte, denn in jener Zeit starb Gerhard Höllerich. Jetzt frag’ nicht was Gerhard mit Grete, Jakob, Claudio oder Kirsten oder dem Tafelspitz zu schaffen hat. Ich erzähle es Dir später. (Es wird glaube ich länger….wie so oft hier.)
Grete und Jakob waren früher mal unsere Vermieter. Herr Peppinello und ich waren recht jung und lebten unverheiratet (Hölle!) zusammen. Grete war Mitte 70, Jakob über 80. Sie hatten ein großes, altes Haus in ländlicher Gegend (da wo Altbier aufhört, und Kölsch anfängt) mit einem riesigen Nutzgarten, 4 Wohnungen und einer verpachteten Gaststätte. In den 4 Wohnungen lebten: Grete nebst Jakob, Hubert und Erika (beide Mitte 50), Käthe (Mitte 60, verwitwet) sowie der Herr Peppinello und ich.
Grete hatte den grünsten Daumen der Welt, machte die weltbeste Stachelbeer-Baiser-Torte, die ich je gegessen habe. Sie war der Inbegriff einer guten Hausfrau und Köchin, sowie eine Seele von Mensch. Sie brachte mir (unter anderem) den Tafelspitz mit Flädlesuppe bei. Bevor ich mich jetzt in Quasseleien verliere, hier erst einmal die
Zutaten (reicht bei uns nur für 4 Personen)
für den Tafelspitz nebst Bouillonkartoffeln
- 1,5 kg Tafelspitz
- Lorbeer, Wacholderbeeren, Nelken, Pfefferkörner, Salz
- 6 – 8 große festkochende Kartoffeln
- 2 große Zwiebeln
- 1 Stange Lauch
- 6 – 8 Karotten
- 1/2 Knolle Sellerie
- Selleriegrün, glatte Petersilie
- Petersilienwurzel
für die Flädle
- 200g Weizenmehl (405)
- 2 Eier
- 1/4 l Milch
- Salz
- nach Belieben Kräuter, bei uns oft Rosmarin heute Petersilie
für das Apfelkren
- mehlige Apfel, geraspelt
- etwas Zitronensaft
- geriebenen Meerrettich (im Idealfall frisch, ersatzweise aus dem Glas, wie bei mir heute)
- Schlagsahne
- Salz
- Bouillon vom Tafelspitz
Das alles sind die Zutaten nach Art von Grete. Ob das nun eine “Wiener” Tafelspitz-Rezept ist, weiß ich nicht. Deshalb nenne ich es auch nicht so. Es ist von Grete. Punkt.
Ich verschone Dich auch heute nicht mit meinen elenden Foto-Collagen und: Ich schwelge dabei in Erinnerungen. Hier oben also mein Tafelspitz , noch recht unspektakulär.
In einem großen (sehr großen) Topf setzten wir Wasser auf. Sobald es kocht, geben wir zunächst das Fleisch, sowie die Lorbeerblätter, die Wacholderbeeren, die Nelken und die Pfefferkörner dazu. Wir schöpfen etwas “Schaum” ab, und stellen den Herd auf kleine Flamme. Grete sagte nie “köcheln”, sondern “simmern”. Dann rösten wir die Zwiebeln an, und geben auch sie in die Brühe. Es ist 10:00 Uhr, wir wollen um 14:00 Uh essen. Gut’ Ding will Weile haben.
In der Zwischenzeit erzähle ich Dir was über Grete, Jakob und die anderen.
Wenn Grete ausging, dann trug sie einen Hut und ein Kostüm, meistens in dunkelblau oder grau, im Sommer beige. Beim Arbeiten in Haus und Garten aber, da trug sie eine Schürze. So eine richtige, mit Stickerei auf der Brust, und Taschen vorne drauf. In den beiden Taschen hatte sie den Hausschlüssel und ein kleines, abgenutztes Gemüsemesser mit braunem Holzgriff. Außerdem erinnere ich mich daran, dass Grete, wenn sie saß, die Hände stets ruhig im Schoß gefaltet hielt. Und nicht so wie ich immer wild damit herumfuchtelte.
In Grete’s riesigem Nutzgarten wuchs alles. Kernobst, Beerenobst, Kräuter, Knollenfrüchte, Gemüse, Salate. Alles. Sämtliche Beete waren schnurgerade angelegt. Und Grete, obwohl schon weit über Siebzig kniete jeden Tag darin. Erika und ich gingen ihr zur Hand, und durften ernten, was wir wollten. Im hinteren Teil des Garten war eine offene Laube (“Remise” nannte Grete das), in der wir oft saßen, Gemüse putzten und erzählten. Grete sprach immer ruhig und bedächtig. Sie war keine Rheinländerin, aber ich kann mich nicht daran erinnern, woher sie war.
In Echtzeit geben wir jetzt, nach einem Stündchen simmern, die anderen Zutaten in den Topf. Die Kartoffeln und die Möhren bleiben ganz. Die anderen Sachen werden nur grob zerkleinert. Alles bleibt beim Simmern.
Jakob hingegen war der Urtyp des Rheinländers. Er hatte, wie viele hier, einen frankophonen Nachnamen. Seine alten Freunde nannten ihn “Köbes”. Wenn Jakob ausging, trug auch er einen Hut, sowie tadellose Anzüge mit entsprechenden Mänteln (Sommermantel, Wintermantel, Übergangsmantel – beige, dunkelblau, grau). Außerdem brauchte er ein Stöckchen, denn er war nicht mehr so gut zu Fuß. Wenn Grete morgens im Garten war, schickte sie den Jakob zum Einkaufen. Sie hätte das glaube ich besser gekonnt, aber ich denke, er ging ihr im Garten manchmal (oder immer) auf die Nerven, und so hatte er eine Beschäftigung. Natürlich hätte Grete das niemals gesagt.
Bevor Jakob zum Einkaufen ging, nahm er im Erdgeschoß im Gasthaus immer erst ein Bier und einen “Kleinen” (Steinhäger)…oder zwei ..oder drei. Ab und an gingen Jakob und ich gemeinsam einkaufen. Jakob war Fleischspezialist, sagte er immer. In früheren Jahren hatten er und Grete die Gastwirtschaft geführt, und vor ihnen Jakob’s Eltern, und davor seine Großeltern. Auf dem weg zum Lädchen erzählte er immer von früher. Sein Langzeitgedächtnis war hervorragend, das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr so. Wenn Grete ihn (behutsam) fragte, ob er Schnaps getrunken habe, konnte er sich nie-nie-niemals daran erinnern. Jakob’s Lieblingsgeschichten handelten von den beiden Kriegen, die er miterlebt hatte. Stundenlang konnte er sich immer aufs Neue darüber aufregen, das sämtliche Besatzungmächte dieser Welt über das schöne Haus hergefallen waren, und vom Keller bis zum Dach das schöne Treppengeländer aus schwerer Eiche (oder war es Mahagoni?) zu Kleinholz verarbeitet und als Brennholz verfeuert hatten und im Anschluss alles verwüsteten.
Wir rühren jetzt schon einmal den Teig für die Flädle, backen dünne Crepes daraus, rollen sie auf, und stellen sie in den Kühlschrank. (Anm. der Bloggerin: Nein, Grete hatte keine Kitchen-Aid, dort wurde von Hand gerührt.)
Im Einkauflädchen angekommen, kaufte Jakob den Tafelspitz, den Grete vorbestellt hatte. Ansonsten fragte er immer nach den Angeboten, oder er nahm “ein schönes Stück vom Vorderviertel”. Jakob aß gerne Orangen, aber die wuchsen in Grete’s Garten nicht. Ohne Brille konnte er, ein Sparfuchs, die Preise nicht erkennen, und so fragte er mich stets danach. Einmal las ich ihm das Schildchen vor: “Jaffa-Orangen, Israel, 1,99 Mark”, worauf er sich sofort wegdrehte, und sagte :”Von denen kaufe ich nix”. (Hinter dem “von denen” kam noch ein weiteres Wort, welches ich hier nicht wiederholen möchte.) Ich wurde so wütend, dass ich ihn am liebsten stehenlassen hätte. Alleine hätte er jedoch die Einkauftasche nicht nach hause tragen können. Ich dachte an Grete, und blieb bei ihm. Stumm trug ich später die Taschen hoch, während Jakob unten noch einen Kleinen nahm, oder zwei.
Und dann passierte Folgendes: Käthe (68 Jahre alt) stand im Nachthemd im Treppenhaus. Tränenüberströmt. Immer wieder schluchzte sie: “Er ist tot..er ist tot!”. Käthe überwinterte normalerweise immer auf Gran Canaria, und zwar mit ihrem “Bekannten” (ich glaube er hieß Heinz), und die jährliche Abreise stand kurz bevor. Alle liefen aufgeregt zusammen. Käthe war untröstlich und weinte ohne Unterlass. Wir dachten an den armen Heinz.
Aber der erfreute sich bester Gesundheit. Tot aber war Gerhard Höllerich. Und den verehrte Käthe seit Jahrzehnten glühend. (Wenn Du jetzt immer noch nicht weißt, wer das ist: Roy Black.) Die Abreise wurde verschoben, ob Heinz wollte, oder nicht, denn Käthe pilgerte nach Straßberg, um Gerhard rote Rosen aufs Grab zu legen.
Zeitgleich fuhren auch Grete und Jakob in den Urlaub. nach Bad Bergzabern, wie jedes Jahr. Mit dem Auto, wie jedes Jahr. Und Jakob fuhr…. Die Tage vor den jeweiligen Abfahrten waren die einzigen Momente, in denen ich Grete’s Nerven blank liegen sah. Jakob hatte einen schneeweißen Ford Escort. Zwanzig Jahre alt und erst 16.000 km gelaufen (immer nur nach Bad Bergzabern und zurück). An manchen Wochenenden lud Jakob den Herrn Peppinello zu einer kleinen Spazierfahrt ein, um “den Wagen zu bewegen”. Allein wie er rückwarts auf der Ausfahrt gurkte, war ein Schauspiel für sich. Wenn die beiden dann mit ungefähr 20 kmh über die nahe Schnellstraße krochen, und von allen Seiten überholt, angehupt, und angeblinkt wurden, hatte der Herr Peppinello gar nicht genug Haltegriffe im Ford, um sich festzukrallen.
Aber Jakob, 83 Jahre alt, und starrsinnig wie ein Kleinkind musste fahren. Nach Bad Bergzabern. Mit dem Zug? Niemals. Denn Jakob stockte in der Pfalz jährlich seinen heimischen Weinkeller auf. Er kaufte Riesling, und zwar in solchen Mengen, wie er sie auch früher, als er noch Gastwirt war orderte. Natürlich zum Vorzugspreis. Ja. Und dann die Steaks in Bad Bergzabern in. Die waren (nach seinen Kriegsgeschichten) sein zweites Lieblingsthema. Die aß er seit Jahrzehnten. Es waren die besten der Welt (zum Vorzugspreis). Und die Größten. Wenn er davon sprach, wurden sie nach jedem Steinhäger größer, bis sie quasi den Durchmesser der Tischplatte des Stammtisches hatten. Ach Jakob. Was hatten wir immer Angst um ihn und Grete, bei der Vorstellung, wie sie (beide mit Hut) über die Autobahn krochen.
Oh oh oh. Vor lauter Erzählen hätte ich jetzt bald das Rezept vergessen. Für das Apfelkren reiben wir die Äpfel und den Meerrettich und geben etwas Zitronensaft dazu. Wir schlagen die ungesüßte Sahne halbsteif und verrühren sie dann mit den Apfel-Rettich-Mischung, etwas Salz und etwas Brühe vom Fleisch. (Grete sagte in der Tat “Kren”, nicht “Meerrettich”.)
Während Jakob und Grete weg waren, hielt Hubert das Haus in Schuss. Er war Schlosser von beruf, und ein handwerkliches Multitalent. Auch er ein Inbegriff des jovialen, stets gutgelaunten Rheinländers. Außer wenn die “Erbschleicher” kamen. Dann spuckte er Gift und Galle. Jakob und Grete waren (darüber weinte Grete manchmal immer noch) kinderlos geblieben. Ihre einzigen lebenden Verwandten waren ein Neffe, nebst Gattin, sowie die Großnichte. Sie lebten in Köln, und kamen nur zu Feiertagen. Oder wenn Grete und Jakob aus Bad Bergzabern heimkehrten. Die Großnichte sollte alles was ihnen gehörte erben. Jedes Mal, wenn sie in der Auffahrt parkten, ging der Neffe ums Haus, und klopfte mit der Hand das Mauerwerk ab. “Erbschleicher”, zischte Hubert dann immer, “die hoffen doch nur, dass der Köbes die Grete und sich totfährt.”
Für uns ist es jetzt Zeit, die Flädle zu schneiden, sie mit etwas heißer Bouillon vom Tafelspitz zu übergießen, und als Vorspeise zu servieren.
Das alles ist jetzt fast 20 Jahre her. Herr Peppinello und ich wohnen längst woanders, und wir haben uns komplett aus den Augen verloren. Jakob ist verstorben, wie ich annehme, und Käthe wohl auch. Aber Grete….nicht. Ich habe im elektronischen Telefonbuch ihren aktuellen Eintrag gefunden. Sie wohnt noch immer in ihrem Haus, mit Hubert und Erika. Ich werde sie anrufen.
Auf keinem Foto der Welt, könnte ich festhalten, wie köstlich dieser Tafelspitz schmeckt, mitsamt den damit verbundenen Erinnerungen.
Schlaf’ schön. Bis morgen.